|
|
Richard
Nein, die Wüste oder Antarktis würden es nicht sein. Stattdessen würden wir in Venedig eine Gondelfahrt machen und uns in Rom das Kolosseum ansehen. Wir würden gut essen, in der Sonne sitzen und uns noch besser kennenlernen. Während Edith auf der Treppe stehen blieb, um ihren Braustrauß zu werfen, stellte ich mich neben ihren Vater. Ihre Eltern waren wegen des Reiseziels eingeweiht und sicher würden sie es gleich auch den anderen Gästen erzählen, sodass Edith die einzige bleiben würde, die keinen blassen Schimmer hatte. Und da sie den Koffer auch nicht selbst gepackt hatte, konnte sie auch nicht von der Kleidung auf das Klima schließen. In hohem Bogen flog der Strauß über die Köpfe und landete schließlich zielsicher in Lady Sybils Armen. Edith sah kurz ihre ältere Schwester mit einem komischen Blick an, den ich nicht verstand, bevor es auch schon an die zahlreichen Verabschiedungen ging. Es waren zwar nur einige Wochen, aber danach würde Edith nach Loxley ziehen und somit endgültig ihr Elternhaus verlassen. Besonders ihrer Mutter fiel es daher schwer. Nachdem wir auch jeden noch einmal persönlich verabschiedet hatten, setzten wir uns in das bereits wartende Auto, voll beladen mit unserem Gepäck. "Ich würde dich ja gern fahren lassen, aber heute geht das ja leider nicht", sagte ich lächelnd und fuhr los. Nach der ganzen Hektik des Tages und den vielen Menschen war die Ruhe ungewohnt. Ich sah kurz lächelnd zu meiner Frau rüber und genoss es, dass wir auch schweigen konnten. Wahrscheinlich dachte Edith sowieso darüber nach, wohin ich sie bringen würde. Heute würde es nur bis zur Küste gehen, wo uns ein Schiff dann bis nach Italien bringen würde.
Sybil
Es war keine Absicht gewesen, dass gerade ich den Brautstrauß fing. Ich hatte mich nicht besonders gut platziert oder war sofort nach vorn gestürzt, als Edith geworfen hatte. Und trotzdem hielt ich ihn jetzt in der Hand. Ein deutliches Zeichen? Denn wenn es nach mir ginge, würde ich schon gleich morgen früh heiraten und mein Leben hier hinter mir lassen. Mary sah mich mit wachsamen Blick an, nachdem wir Edith und Richard verabschiedet hatten und jeder wieder seine Gespräche aufnahm. "Sicherlich bist du die nächste, Sybil", sagte Mama breit lächelnd zu mir, bevor sie wieder in der Menge verschwand. Wenn sie nur wüsste, dachte ich... Ich drehte den Strauß in meinen Händen. Im Moment beachtete mich niemand sonderlich, alle waren sie mit etwas oder jemand anderem beschäftigt. Unauffällig ging ich an den Rand der Menge, bis ich neben der Dienstbotentür stand. Jimmy kam gerade heraus, auf seinem Tablett eine Reihe sauberer Gläser und ich nutzte meine Chance. Mit schnellen Schritten lief ich erst die Treppe hinunter und dann geradewegs durch die Tür nach draußen. Niemand schien mich bemerkt zu haben, hatten sie doch alle genug zu tun. Die kalte Luft der Nacht traf mich, aber ich lief nur noch schneller, bis ich vor der Werkstatt stand. Drinnen brannte Licht - denn natürlich musste Tom darauf warten, bis Granny oder jemand anderes schnell nach Hause wollte. Ohne anzuklopfen ging ich rein, hielt den Strauß hinter meinen Händen und holte ihn erst hervor, als ich vor Tom stehen geblieben war. "Anscheinend bin ich die nächste, die heiraten wird", sagte ich dann lachend.

Edith
Als Richard und ich uns schließlich ins Auto setzten, wurde mir klar, dass ich nun endgültig das Nest verließ. Und Mama auch – ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Dennoch hätte ich nicht glücklicher sein können. "Gib es zu, du hast nur Angst, dass wir nicht lebendig ans Ziel kommen", ärgerte ich Richard, als er darauf bestand, selbst zu fahren. Schnell verfielen wir in Schweigen, aber es war nicht unangenehm – den ganzen Tag war so viel los gewesen, dass es jetzt eine Wohltat war, in stummem Einverständnis einfach nur aus dem Fenster auf die Straßen zu schauen. Wo wir wohl hinfuhren? Mit Richard an meiner Seite würde ich ohnehin jeden Ort schön finden, aber ich war gespannt, was er sich für mich überlegt hatte und was das über ihn aussagte. Ich tippte auf Frankreich und schloss in Gedanken eine Wette mit mir selbst ab – worum, wusste ich selbst noch nicht. "Genau so hat es damals angefangen. Mit einer Autofahrt", stellte ich nach einer Weile fest und sah lächelnd zu meinem Ehemann hinüber. Selbst in Gedanken fühlte es sich ungewohnt an, das zu sagen.
Tom
Der Tag von Lady Ediths Hochzeit hatte mich nachdenklich gestimmt. Darüber, was ich selbst von meinem Leben und von Sybil erwartete. Und war definitiv mehr als das hier: Herumsitzen und darauf warten, jemanden nach Hause zu fahren. Lady Edith hatte einen Mann geheiratet, der ihr Vater sein könnte. Ich würde doch wohl gut genug für Sybil sein. Wie so oft erwischte ich mich dabei, dass ich ungeduldig wurde und hielt mich in Gedanken zurück. Sybil würde ihr Versprechen halten. Bloß wann? Jeder Tag, an dem ich so tun musste, als sei ich nur ihr Chauffeur, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Als hätte ich sie durch meinen Gedanken heraufbeschworen, stand sie plötzlich vor mir – mit einem Blumenstrauß in der Hand. Verwirrt ließ ich die Zeitung sinken, in die ich hineingeschaut hatte, ohne sie zu lesen. Dann erst verstand ich, dass Sybil Lady Ediths Brautstrauß gefangen hatte und somit, glaubte man dem Brauch, die nächste sein würde, die heiratete. "Das will ich auch hoffen", sagte ich grinsend, legte die Zeitung weg, schaute mich kurz um und ging dann zu Sybil, um ihr einen kurzen Kuss zu geben. "Genießt du das Fest?" Sie sah umwerfend aus in ihrem schicken Kleid, das konnte ich nicht leugnen – trotzdem wartete ich noch immer auf den Tag, an dem ich sie wieder in einer Hose sehen würde.

Richard
Es fühlte sich gut an und richtig, Edith an meiner Seite zu haben. Von nun an würde es immer so sein und ich hoffte, dass sie glücklich war und es lange bleiben würde. Selbst als wir nicht miteinander redeten, musste ich die ganze Zeit über lächeln. Als sie nach einer Weile wieder ein Gespräch anfing, hatten wir Downton bereits weit hinter uns gelassen. "Da ist es doch nur passend, dass wir mit einer Autofahrt auch in unser neues Leben starten", sagte ich und sah sie kurz an. "Weißt du, als du das erste Mal mein Auto gefahren bist und ich so neben dir saß, da habe ich mir gedacht, wie schön es doch wäre, noch einmal jung zu sein und eine Frau wie dich kennenzulernen. Eine Frau, die die gleichen Interessen hat und genauso gerne eine Spritztour unternimmt wie ich. Und jetzt habe ich genauso eine" Ich musste vor Freude lachen und drückte kurz ihre Hand, bevor ich wieder beide Hände ans Steuer nahm, damit uns auch ja nichts passierte an diesem wichtigen Tag. "Ich kann dir heute gar nicht genug sagen, wie glücklich ich bin. Und wie sehr ich dich liebe" Vor Rührung hätte ich fast schon feuchte Augen bekommen können, wenn ich nebenbei hätte fahren müssen. Ein wenig war es noch bis zum Hafen, von wo uns ein Schiff nach Italien bringen würde. Wenn es nach mir ging, würde Edith erst beim Verlassen des Schiffs in einigen Tagen unser Ziel erfahren, aber ich glaubte, dass war nicht möglich. Schon jetzt konnte ich ihre Neugier förmlich spüren.
Sybil
Breit lächelnd blieb ich dicht vor ihm stehen und sah zu ihm auf. "Es war ein wirklich schöner Tag, aber all das hat mich natürlich nachdenklich gemacht..." Ich sah ihn ernst an. "Ich weiß, dass du nur darauf wartest, dass wir es meinen Eltern sagen. Aber ich will das erst tun, wenn wir einen festen Plan haben, an dem sie kein bißchen rütteln können. Du brauchst eine neue Arbeit und deine Mutter muss Bescheid wissen. Ich will sie nur vor vollendete Tatsachen stellen, denn ohnehin wird die Hölle ausbrechen", redete ich weiter und drehte wieder den Brautstrauß in meinen Händen. "Meine Eltern haben keinen blassen Schimmer und jetzt, wo Edith aus dem Haus ist, weiß nur Mary Bescheid. Kannst du noch etwas warten?" Ich griff nach seiner Hand. Von der ausgelassenen Feierstimmung im Haus war ich weit entfernt, denn sie erinnerte mich nur daran, was ich so unbedingt wollte. Und das war, dieses Haus und Leben zu verlassen und mit Tom an meiner Seite in die Zukunft zu gehen. Im Moment waren wir davon noch einen großen Schritt entfernt und bald ging es für die Saison wieder nach London. Aber eines Tages würde ich mit Tom an meiner Seite vor meine Eltern treten und ich konnte nicht darauf warten, dass dieser Tag bald kam.

Edith
Als Richard mir erzählte, wie er sich gefühlt hatte, als wir uns kennengelernt hatten – es fühlte sich an, als wäre es Ewigkeiten her – und was er sich für seine Zukunft gewünscht hatte, kamen auch mir die Tränen und als er mir sagte, wie sehr er mich liebte, öffnete ich meine Handtasche und suchte mein Taschentuch. Das Gefühlschaos der letzten Jahre, wie ich immer wieder unglücklich verliebt war, die ständigen Streitereien und Konkurrenzkämpfe mit Mary und schließlich das Drama, bis Richard und ich endlich zusammengefunden hatten – all das hatte sich über viele Jahre angestaut und kam plötzlich hoch. "Und ich bin auch so unendlich, unendlich glücklich", sagte ich, nachdem ich ein paar Schluchzer heruntergeschluckt hatte und lächelte. "Ich wollte immer nur einen Mann, der mich so liebt, wie ich bin und mir nicht meine Schwester vorzieht oder mich mit ihr vergleicht. Niemand, weder meine Familie noch ich, hätten gedacht, dass ich jemals heiraten würde." Ich drückte kurz seine Hand, ehe er sie wieder ans Lenkrad nahm und trocknete meine Augen. So plötzlich, wie ich angefangen hatte zu weinen, hörte ich auch wieder auf und verstaute demonstrativ mein Taschentuch. "Und nachdem wir jetzt festgestellt haben, wie gut es das Schicksal mit uns beiden gemeint hat", sagte ich und schaute mit meinem liebsten Blick zu Richard hinüber, "kannst du mir einen Hinweis geben, was unser Ziel ist." Mittlerweile waren wir, soweit mein eher mäßiger Orientierungssinn mir verriet, schon in der Nähe des Hafens. Dennoch – wenn ich noch mehrere Tage warten musste, bis ich unser Zielland kannte, würde meine Neugier mich umbringen.
Tom
Gegen Sybils Argumente war nichts einzuwenden. Es stimmte natürlich, wenn ich ihr keinen schmerzhaften Bruch mit ihrem Elternhaus bescheren wollte, brauchten wir erst einen guten Plan. "Ich weiß", sagte ich ernst und sah ihr in die Augen. "Und ich werde mich darum kümmern, um meine Mutter und um meine Arbeit. Ich habe auch schon eine Idee, was die Arbeit angeht", versprach ich. Ich wollte nämlich auf jeden Fall einen Weg finden, weiterhin meine politischen Interessen zu verfolgen. "Wenn es sein muss, warte ich, bis wir beide graue Haare haben", murmelte und beugte mich vor, sodass mein Gesicht näher an ihrem war. "Auch wenn ich hoffe, dass es etwas schneller geht, weil ich bei unserer Hochzeit gut aussehen will", raunte ich und grinste leicht. Noch einmal von ihr zu hören, dass wir auf jeden Fall eine Zukunft hatten und es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war, hatte mich aufgebaut und meine Laune gehoben. Als Sybil meine Hand nahm, griff ich auch nach ihrer anderen und küsste sie einfach – das Risiko ging ich gerne ein.

Richard
Natürlich hatte ich sie nicht zum Weinen bringen wollen. Aber da es Freudentränen waren, empfand ich es nicht als allzu schlimm. Im Gegensatz, ich war sehr gerührt. "Es scheint so, als hätten wir beide im Leben einmal wirklich Glück gehabt", fasste ich ihre Worte zusammen. Es machte mich traurig, wie sehr ihr das Leben auf Downton bisher zugesetzt hatte. In unserem gemeinsamen Leben würde es da ganz anders sein. Sie müsste sich nicht mehr hinter ihren Schwestern verstecken oder ihre Interessen unterdrücken. Als sie mich schließlich mit einem Blick ansah, der mein Herz ansonsten zum Schmelzen gebracht hätte, musste ich einfach lachen. So einfach würde ich es ihr nicht machen. Schließlich wollte ich die große Überraschung auf keinen Fall verderben, wo ich mich so intensiv um das bestmögliche Reiseziel gekümmert hatte. "Ich verrate nur so viel: Wir verlassen noch heute Nacht England", rang ich mich schließlich zu einer unverfänglichen Antwort durch, die ihr keineswegs reichen würden. Aber mehr würde es nicht geben. Wir waren fast am Hafen angelangt und ich hoffte, dass unser Reiseziel nicht allzu groß vor dem Schiff angepriesen wurde.
Sybil
Ich stellte mir Tom mit grauen Haaren vor und musste lachen. "So lange will ich auf keinen Fall warten", gab ich zurück, bevor er mich einfach küsste und ich mich ihm hingab. Die Gefahr bestand, dass jemand jeden Moment um die Ecke kommen konnte, um Branson zu seiner Arbeit zu rufen. Schließlich wurde es immer später und sicherlich würden die ersten Gäste gleich gehen wollen. Für einen Augenblick war es mir egal. Edith hatte ihr Glück gefunden und ich war entschlossen, für mein eigenes Glück bald einen Schritt weiter zu gehen. Dann siegt aber doch mein Verstand und ich zog mich zurück. "Ich habe weiter nachgedacht... Wenn wir nach London fahren, wird Papa dich sicher mitnehmen. In so einer großen Stadt findest du sicher einen Arbeitsplatz in Dublin. Jedenfalls besser als hier in Yorkshire. Das würde sicher weiterhelfen", erzählte ich ihm dann, was mir während der Trauung heute Nachmittag in den Kopf gekommen war. In London wären Mama, Papa und Mary sicherlich auch so beschäftigt, dass niemand bemerken würde, wenn ich Zeit mit Tom verbrachte und unsere Hochzeit plante. Auch wenn es bedeutete, dass ich noch einige weitere Bälle, Dinners und andere gesellschaftliche Veranstaltungen überstehen musste.

Edith
Ich seufzte über Richards Hinweis. "Ich werde nicht locker lassen", schwor ich lachend und schaute aufgeregt aus dem Fenster, als wir tatsächlich den Hafen erreichten. Das Schiff stand schon bereit, aber ich fand nirgendwo einen Hinweis, wohin es fuhr. Richard parkte das Auto und als ich ausgestiegen war, streckte ich mich etwas, weil sich mein Körper vom langen Sitzen ganz steif anfühlte. Tief atmete ich die frische Luft ein, während Richard unsere Koffer aus dem Auto holte. Das Schiff war beeindruckend groß. "Man fühlt sich seltsam klein, oder?", sagte ich zu ihm, als wir an dem Schiff herauf schauten. Die Titanic war uns allen schließlich noch gut im Gedächtnis geblieben. Sei es drum, wenn ich sterbe, sterbe ich wenigstens auf meiner Hochzeitsreise, dachte ich, als wir schließlich zum Schiff gingen. Wieder überkam mich eine Welle von Vorfreude. Zum ersten Mal seit langer Zeit würde ich gleich das verregnete, oft langweilige England verlassen.
Tom
Ich machte ein missmutiges Geräusch, als Sybil sich unserem Kuss entzog, aber sie hatte ja leider Recht, es war vernünftiger so. Und was sie zu sagen hatte, stimmte mich zuverlässig. "Stimmt, London...", sagte ich nachdenklich. "Das sollte klappen. Meiner Mutter werde ich trotzdem so bald wie möglich schreiben. Dann hat sie Zeit, es zu verdauen", grinste ich und freute mich jetzt sogar auf London – eine gute Möglichkeit, einen weiteren Schritt in Richtung unserer gemeinsamen Zukunft zu gehen. "Ich dachte, ich könnte als...", fing ich an und wollte ihr gerade von meinen Plänen, als Journalist zu arbeiten, erzählen, als sich Schritte der Werkstatt näherten. Sofort machten wir beide zwei Schritte zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. "Natürlich, mylady", sagte ich laut und so ernst wie möglich und seufzte innerlich. Wie lange würde es noch so weiter gehen?

Richard
"Wenn es nach mir geht aber erst dann, wenn wir ankommen", gab ich ihr zurück und stieg aus dem Auto. Unsere Koffer wurden gleich verladen, sodass ich Edith nur noch meinen Arm anbieten musste. Gemächlich gingen wir auf das Schiff zu und sahen es uns genau an. "Da kann ich dir nur zustimmen. Auch wenn es sicher nicht zu den größten Schiffen zurzeit gehört. Aber groß genug ist es allemal", antwortete ich ihr, während wir in Empfang genommen wurden und ich uns mit 'Sir Richard und Lady Edith Blackwell' vorstellte. Es war das erste Mal, dass ich es offiziell verwendete und Edith strahlte genauso wie ich. Wir bekamen gleich ein Glas Champagner und wurden zu unserer Kabine geführt. Auch wenn die Schiffsreise nur dazu war, um nach Italien zu kommen, hatte ich eine großzügige Kabine gewählt. Zwar hatte ich nicht so viel Geld wie Lord Grantham und Loxley House war um einiges kleiner, aber durch meinen bescheidenen Lebensstil in den letzten Jahren hatte ich viel zurücklegen können. Und einen Teil davon gab ich jetzt für die Flitterwochen aus, damit zu einem Erlebnis - vor allem für Edith - wurden.
Sybil
Ich war gespannt, was Toms Mutter zu unserer Beziehung sagen würde. Sicherlich würde sie nicht so heftig wie meine Eltern reagieren, aber dass sie uns unterstützen würde, wo doch alles gegen uns gerichtet war, bezweifelte ich. Dennoch wollte ich sie unbedingt so bald wie möglich kennenlernen. Neugierig sah ich Tom an, als er mir von seinen Plänen berichten wollte, aber gerade im kritischen Moment hörten wir beide Schritte und gingen automatisch auseinander. Gerade noch rechtzeitig, bevor Jimmy schwungvoll um die Ecke bog und mich eine Sekunde lang mit einem erstaunten Blick ansah. "Tut mir leid, mylady", entschuldigte er sich schnell und sah dann Tom an. Ich kam mir furchtbar komisch vor, wie ich mit Ediths Brautstrauß und in einem schicken Kleid mitten in der Nacht vor Tom stand. Jimmy ließ sich zum Glück nichts anmerken. "Mr. Branson, das Auto wird gebraucht" Das war mein Stichwort und ich wandte mich zum Gehen. "Danke, Branson", sagte ich hoffentlich so normal wie möglich und ging dann schnell zurück ins Haus. Nachdenklich sah ich auf den Strauß in meinen Händen und schwor mir, dass wir spätestens während unserer Zeit in London reinen Tisch mit meiner Familie machen würden.

Edith
Auf dem Schiff wurden wir gleich in Empfang genommen und ich lächelte breit, als ich mit Lady Edith Blackwell angesprochen wurde. Im Gegensatz zu Mary war ich nie stolz auf meinen Nachnamen gewesen. Natürlich liebte und schätzte ich meine Familie, aber den Namen des Mannes, den ich liebte, zu tragen, erschien mir so viel passender. Ich nahm mein Champagnerglas entgegen und betrat neugierig die Kabine – die eher eine Suite war. Anscheinend hatte Richard wirklich keine Kosten gescheut, um mir die – wenn auch nur wenigen – Tage auf See so angenehm wie möglich zu machen. Ein riesiges Bett nahm den größten Teils des Raumes ein, eine große Fensterfront zeigte aufs Meer und in einem abgegrenzten Bereich befanden sich ein Tisch und eine Sitzecke. Anscheinend war bekannt, dass wir frisch verheiratet waren, denn jemand hatte Rosenblätter auf dem Bett verteilt und ich spürte, wie meine Wangen sich rosa färbten. Richard gab dem Kofferträger Trinkgeld und dann waren wir allein. Ich legte Handtasche, Hut und Mantel ab und ließ mich in einen der Sessel fallen. In der einen Hand hielt ich das Champagnerglas, die andere streckte ich in Richards Richtung aus.

Richard
Die Tür fiel langsam zu und es kam mir vor, als wenn wir zum ersten Mal richtig allein waren an diesem Tag. Im Auto hatte ich schließlich fahren müssen, aber jetzt konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit Edith wenden. Ich stellte mein mittlerweile leeres Champagnerglas ab, ging auf meine Frau zu und nahm ihre Hand. "Wir legen in etwa einer Stunde ab. Möchtest du dir das auf dem Deck angucken?", fragte ich dann lächelnd und bemerkte ihre roten Wangen. Meinen Mantel hatte auch ich schon ausgezogen. "Oder wir könnten hier bleiben..." Wir sahen uns an. Als Antwort stand sie auf und küsste mich. Anstatt also auf dem Deck zu stehen und England nachzuwinken, blieben wir lieber in unserer Kabine...
Die Schifffahrt dauerte einige Tage. Wir verbrachten viel Zeit an Deck, vor allem als es immer sonniger wurde. Ahnte sie, wohin wir fuhren? Nach Frankreich wäre es nicht so weit und Spanien ließen wir auch bald hinter uns. Natürlich fragte sie, aber noch blieb ich hart. Wir aßen gut, verbrachten jede Minute zusammen und lernten uns noch besser kennen. Und schließlich kam Land in Sicht. Da man unsere Koffer schon gepackt hatte, konnten wir entspannt am Deck dabei zusehen, wie wir einen Hafen anliefen. Und natürlich konnte ich ab da nicht mehr verheimlichen, wo wir waren. Neapel stand in großen Buchstaben am Hafenkai. Ich sah Edie breit lächelnd an. "Willkommen in Italien, mein Schatz"

Edith
Die Zeit auf dem Schiff war die bis dahin schönste meines Lebens. Weit weg von meiner Familie hatten Richard und ich viel Zeit, uns ohne Intrigen und Vorbehalte von anderen endlich richtig kennen zu lernen. Wir redeten und lachten so viel, dass mir nach einigen Tagen die Mundwinkel weh taten, genossen die Aussicht aufs Meer und tranken jede Menge guten Wein. Richard weigerte sich nach wie vor, mir zu sagen, wo unsere Reise uns hinführte und meine Vermutung, dass Frankreich unser Ziel war, wurde zerschlagen, als wir schon so lange unterwegs waren, dass wir Frankreich sicherlich weit hinter uns gelassen hatten. Als wir uns schließlich dem Festland näherten, hatte ich mich schon so an die Neugier und Ungewissheit gewöhnt, dass ich mir bewusst ins Gedächtnis rufen musste, dass das große Geheimnis jetzt gelüftet wurde. Da sich jemand um unser Gepäck kümmerte, brauchten wir nichts weiter zu tun, als auf dem Deck zu stehen und dabei zuzusehen, wie der Hafen immer näher kam. Mittlerweile hatte ich zumindest erkannt, dass wir in Italien waren. Die Sonne und Wärme waren schon jetzt unvergleichlich und je näher wir dem Ufer kamen, desto besser konnte ich lesen, was auf dem Kai geschrieben stand: "Neapel!", sagte ich verzückt. Ich war noch nie hier gewesen, aber schon was ich vom Schiff aus sah, ließ mein Herz höher schlagen und ich verfluchte England gedanklich. "Danke, Richard, das ist wundervoll", strahlte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Richard
Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sie sich so freute und mir einen Kuss auf die Wange gab. Zwar war sie noch nie in Italien gewesen - das hatte ich extra sichergestellt - aber trotzdem hätte es ihr ja nicht gefallen können. Auch wenn ich noch nicht die ganze Überraschung verraten habe. Aber jetzt war es endlich soweit. Denn Neapel war nicht das einzige Ziel unserer Flitterwochen. "Wir werden einige Tage hier verbringen, dann nach Rom, Venedig und schließlich Mailand", erzählte ich ihr breit lächelnd. Wir würden es uns gut gehen lassen, das beste Essen des Landes probieren, in Venedig durch die Kanäle fahren, alte Kunstwerke ansehen und dabei immer in der Nähe des anderen sein. Es waren also paradiesische Aussichten, bevor wir nach London zurückkehren und noch einige Wochen in Crawley House verbringen würden. In der Zwischenzeit würde Loxley House in wenig umgestaltet werden, so wie wir es vor der Hochzeit miteinander besprochen hatte. Unter anderem mit einem Kinderzimmer...mAls das Schiff schließlich angelegt hatte, ging ich mit Edith an der Hand die Reling hinunter. Es wartete bereits ein Auto auf uns, auch wenn unser Hotel fast direkt am Meer lag. Gerade rechtzeitig zum Lunch kamen wir an und ich stellte sicher, dass wir dabei auf der Terrasse vor dem Hotel sitzen konnten. So ließ es sich doch aushalten.

[...]
Sybil
"Sybil?" Mamas Worte holten mich aus meinen Gedanken zurück. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich einfach stehen geblieben war, mitten auf dem Bürgersteig in London. Mama und Mary standen beide einige Meter von mir entfernt und sahen mich an. Ich war von Anfang an nicht richtig bei der Sache, als wir heute Morgen zu einer kleinen Shoppingtour zu Mamas Lieblingsschneider aufgebrochen waren. Zum einen, weil natürlich Tom uns durch die Straßen von London fuhr und zum anderen, weil es wirklich so aussah, als würde er bald einen Arbeitsplatz in Dublin gefunden haben, bei einer Zeitung. Nach unserem Treffen an Ediths Hochzeitstag hatte er mir einige Tage später berichtet, dass er seiner Mutter geschrieben hatte und gleichzeitig auch daran dachte, als Journalist zu arbeiten. Ich fand beides großartig und hoffte, dass es klappen würde. Noch hatte er keine Rückmeldung bekommen. Aber da es wirklich so aussah, als würde bald unser Plan stehen, war es schwer, sich auf mein Leben hier zu konzentrieren. Wie immer während der Saison war es in London voll. Fast jeden Abend kamen Gäste, es gab Gartenpartys, Bälle und Modenschauen. Nur konnte ich nichts davon genießen, denn gedanklich war ich schon in Dublin mit Tom. Kein Wunder also, dass ich hinter Mama und Mary zurückgeblieben war. "Tut mir leid", sagte ich schnell und betrat mit ihnen das Geschäft. Mary sah mich kurz von der Seite an. Ahnte sie, dass ich an Tom gedacht hatte? Da sie nichts sagte und sich stattdessen den herausgelegten Stoffen zuwandte, ging ich allein an den Schaufensterfiguren vorbei. Ich wusste nicht, warum es mir so ins Auge sprang. Aber als ich gerade an einem Beistelltisch mit Zeitschriften und Broschüren vorbeiging, musste ich abrupt stehen bleiben. Es war ein kleiner, unscheinbarer Zettel. Der eingebildete Kranke stand dort in großen, schwarzen Buchstaben unter dem Namen eines Theaters, von dem ich noch nie gehört hatte. Aber das war es nicht, warum ich ihn mir genauer ansah. Denn unter dem Namen des Stücks waren die Schauspieler aufgelistet. Und ganz oben stand Elizabeth Allen. War es möglich, dass es Lizzy war, von der ich seit so langer Zeit nichts mehr gehört hatte? Es kam mir vor wie ein Wink des Schicksals. Denn diese Werbung war die einzige von dieser Sorte und ich hatte die Ahnung, dass das Theater eigentlich nicht für die Kreise bestimmt war, die in diesem Geschäft ein uns ausgingen. Es würde passen... Lizzy am Theater, in London. Schnell steckte ich den Zettel ein.
Und schon am nächsten Abend saß ich in genau dieser Theateraufführung in einem kleinen, etwas heruntergekommenen, aber dennoch einladendem Theater. Zuhause hatte ich erzählt, dass ich eine Freundin besuchte. Nervös sah ich zur Bühne und hoffte, dass es wirklich Lizzy sein würde, die gleich auftreten würde. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, trug sie ein Hochzeitskleid und stürmte aus der Kirche. Seitdem gab es kein Lebenszeichen von ihr und meine Nachforschungen hatten keinen Erfolg gehabt. Dementsprechend groß war jetzt mein Wunsch, dass ich sie heute wiederfinden würde. Das Licht ging bereits aus, als noch ein letzter Besucher hineinkam und sich in meine Reihe setzte. Der Vorhang öffnete sich und im Scheinwerferlicht erkannte ich, dass es Jimmy war.
Jimmy
Der Vorhang ging auf. Ich hatte es also noch gerade rechtzeitig geschafft. Schwer genug war es auch gewesen, überhaupt heute Abend hierherzukommen. Carson hatte mich natürlich nicht gehen lassen wollen, obwohl mir noch ein freier Abend zustand. Als er mich endlich gehen ließ, musste ich gefühlt ewig auf den nächsten Bus warten. Aber jetzt war ich hier. Und hatte eigentlich keinen blassen Schimmer, was genau ich mir von dem Abend erwartete. In Thomas Zeitung hatte ich die Werbung gesehen und eigentlich mit keinem Blick gewürdigt, aber irgendwie sprang mir ihr Name vor die Augen. Wenn sie es denn wirklich war. Lizzy. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seitdem ich mich jeden Abend in ihr Zimmer auf Downton geschlichen hatte. Wie sie dann heiraten wollte und es doch nicht tat. Seitdem war so viel passiert und ehrlicherweise war sie irgendwann ganz aus meinen Gedanken verschwunden. Warum also saß ich jetzt hier? In London gab es an einem freien Abend nämlich genug andere Dinge zu tun, um Spaß zu haben. Wahrscheinlich würde auch gleich eine alte, unscheinbare Frau auf die Bühne kommen und nicht Lizzy. Und selbst wenn sie es sein würde, was dann? Würden wir miteinander reden? Ich beschloss, einfach den Abend zu genießen. Komme, was da wolle.

Lizzy
„Mein Herr…“, fing Pierre vorsichtig an. Seine Stimme klang in dem riesigen, leeren Raum noch klarer als sonst. „Sprecht nicht so laut“, fuhr ich unwirsch dazwischen, „Ihr könntet sonst Herrn Argans Gehirn erschüttern.“ Wie üblich fiel es mir schwer, ernst zu bleiben, aber das hier war wichtig, sehr wichtig sogar, denn Nancy Mitford konnte jetzt schon kaum schlafen vor Aufregung und wenn wir nun bei der Generalprobe ständig Fehler machten oder anfingen zu kichern, würde das ihre Nerven kaum beruhigen. „Mein Herr, ich bin sehr erfreut, Euch außer Bett zu finden und zu sehn, dass es Euch besser geht.“ Mit einem schmeichlerischen und, wie ich fand, schrecklich schmierigen Gesichtsausdruck wandte Pierre sich dem großen, alten Bett zu, auf dessen Kante Adam saß, mit einer riesigen weißen Schlafmütze auf dem Kopf und einem weiten, weißen Nachthemd an. Darunter befand sich eine Polsterung, denn Adam sah sonst zu fit und jung aus. Die weiße Farbe in seinem Gesicht und die Falten, die unsere Maskenbildnerin Jannet ihm so gekonnt verpasst hatte, taten ihr übriges. „Was!“, rief ich entzürnt, war mit zwei schnellen Schritten bei Adam und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Empört schaute ich Pierre an – und mir wurde wieder einmal klar, wie sehr ich dieses Stück und meine Rolle liebte. Nichts machte mehr Spaß, als gespielte Empörung zu spielen. „Dass es ihm besser geht? Das ist falsch; Herr Argan befindet sich immer schlecht“, sagte ich mit Nachdruck. „Ich hatte gehört, es ginge Herrn Argan besser; und ich finde, er sieht seht gut aus“, gab Pierre zurück und ich biss mir auf die Zunge, um keine Miene zu verziehen und weiterhin ernst und empört auszusehen. Aber diese Szene erinnerte mich immer daran, wie mein Verlobter sich verhalten hatte, als ich ihn meinen Eltern vorgestellt hatte: sehr bedacht darauf, höflich zu sein und bloß nichts Falsches zu sagen. Die Tatsache, dass er Franzose war, hatte es nicht gerade besser gemacht, aber schließlich hatten meine Eltern eingesehen, dass ich mich, sollten sie Pierre ablehnen, ohnehin nur wieder aus dem Staub machen würde. Wie damals. „Was wollt Ihr nur mit eurem guten Aussehen? Herr Argan sieht sehr schlecht aus…“
Wir brachten die dritte Szene des zweiten Akts problemlos hinter und uns Pierre zwinkerte mir auf seine umwerfende Art zu, ehe wir uns auf verschiedenen Seiten vom Szenenbild entfernten. Ich hatte erstmal eine Szene Pause und konnte nur zuschauen, weshalb ich mich auf einem auf der Bühne herumliegenden Brett niederließ und meine Haube zurechtrückte. Mein Kostüm, das des Hausmädchens Toinette, erinnerte mich an meine Zeit auf Downton Abbey. Was ich nie laut aussprechen würde, denn in unserem Stück Der eingebildete Kranke imitierten wir das 17. Jahrhundert und gaben uns dabei nicht geringste Mühe, dies schmeichelhaft zu tun – immerhin war es eine Komödie – während man auf Downton Abbey immer noch fälschlicherweise dachte, mit der Zeit zu gehen. Und dennoch sah die Arbeitskleidung der weiblichen Bediensteten aus wie ein Theaterkostüm. Zumindest war das der Fall gewesen, als ich vor fast zwei Jahren Downton verlassen hatte, aber ich bezweifelte, dass sich etwas geändert hatte dort. Vermutlich war die Zeit stehengeblieben, während ich aus alldem ausgebrochen war und sich in meinem Leben so viel verändert hatte. Zuerst hatte ich es bereut. Ich war ein Kind vom Lande und plötzlich allein in einer großen Stadt. Aber dann hatte ich es genossen – den Lärm, die Anonymität, und die unendlich vielen Möglichkeiten. Ich hatte als Mädchen für alles im Theater angefangen und mich erst gefragt, ob ich nicht doch aufgeben und zu meinen Eltern zurückgehen sollte. Aber dann war Sue Nevill krank geworden, schwer krank, und ich – mittlerweile zur Souffleuse aufgestiegen, konnte jedes Wort ihres Textes als Julia auswendig. Das war vor einem Jahr gewesen. Ich war innerlich gestorben, als ich plötzlich auf der Bühne stand, vor so vielen Menschen, aber als das Stück geschafft war, fehlerfrei, und wir Schauspieler minutenlang tosenden Applaus über uns ergehen ließen, fiel die ganze Anspannung von mir ab. Und da hatte mich das Theaterfieber gepackt und weder Nancy noch meine Schauspielkollegen hatten mich je wieder Tee kochen lassen wollen. Sue Nevill hatte es dank kaputter Stimmbänder nie mehr ans Theater zurück geschafft, aber ich hatte mir einen Namen gemacht. Natürlich wurde meine Wohnung nicht von Fans und Journalisten belagert und wenn ich mit einer Sonnenbrille auf die Straße ging, erkannte man mich kaum. Aber ich war nicht mehr nur Lizzy, die ein Pony hatte, mit ihrer Zofe befreundet war und bei den reichen Familien nur zu Besuch war. Ich war Elizabeth Allen und bald nicht einmal mehr die, weil ich heiraten würde. Pierre hatte bei meinem Bühnendebüt den Romeo gespielt, wie hätte es auch sonst sein sollen, und wir hatten uns Hals über Kopf bei den Proben ineinander verliebt. Wenn ich so zurückdachte, klang es alles wie aus einem Roman. Es klang unwirklich und ich hatte unheimlich viel Glück gehabt, aber ich hatte auch viel aufs Spiel gesetzt und mein Leben komplett hinter mir gelassen. Warum sollte ich dafür nicht belohnt werden? „Fünfte! Szene!“, ertönte Nancys schon leicht hysterisch klingende Stimme und holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ja, es war alles vollkommen real, dachte ich, während ich aufstand, auf mein rechtes Ohr drückte, damit es aufhörte zu piepsen und meine Haube sowie Schürze zurecht rückte. „Meiner Treu, Herr Argan…“
Jannet schob die Zunge zwischen die Lippen, während sie konzentriert meinen blassen Lippenstift nachbesserte und mir schließlich einen feinen Lidstrich zog. Natürlich waren Hausmädchen nicht geschminkt, aber je größer Toinettes Augen wirkten, desto aufmüpfiger sah sie aus, weshalb meine ohnehin schon recht großen Augen noch mal hervorgehoben wurden. Jannet zog meinen Haarknoten, den ich mittlerweile seit neun Uhr in der früh trug, enger zusammen, was mich kurz japsen ließ und zurrte die Haube fest. „In Ordnung, Lizzy, du kannst gehen. Und halte dich von Pierres Lippen fern, sonst muss ich schon wieder von vorne anfangen.“ Sie drohte mir spielerisch mit dem Puderpinsel in ihrer Hand. Lachend hob ich die Hände. „Schon gut, ich halte mich zurück!“ Grinsend stand ich auf und verließ meine winzige Garderobe. Es wurde ernst, heute würden wir den Eingebildeten Kranken zum ersten Mal aufführen. Wie immer wurde ich regelrecht von Adrenalin durchströmt, während ich beobachtete, wie Adam hinter dem noch geschlossenen Vorhang seine Position einnahm, um in wenigen Minuten mit der ersten Szene, in der er die Rechnung seines Apothekers kontrollierte, zu beginnen. Gleich danach in der zweiten Szene war ich dran. Ich atmete tief durch. Mein Text saß, mein Kostüm saß, mein Hals war frei und meine Stimme nicht kratzig. Unser Ensemble war gut aufeinander abgestimmt. Jede Bewegung und Geste saß einwandfrei, vom Text ganz zu schweigen, das Timing der Kostümwechsel war ausgeklügelt. Nichts konnte schiefgehen. Pierre drückte im Vorbeigehen kurz meine Hand – wie alle anderen auch war er nun gedanklich schon komplett in seiner Rolle. Und dann ging das Licht im Saal aus, grelles Scheinwerferlicht erhellte dafür das Dunkel auf der Bühne und schließlich öffnete sich schwungvoll der Vorhang.
Adam spielte die erste Szene absolut perfekt, während ich auf meinen Einsatz wartete. „Ist’s denn erhört, einen armen Kranken so allein zu lassen? Klingling ling ling ling ling! – Das ist doch wahrhaftig zum Erbarmen! Klingling ling ling! Ach, du lieber Gott! Sie werden mich hier sterben lassen! Klingling ling!“ Jetzt. Zügig lief ich auf die Bühne. „Ich komme schon!“ – „Warte, du Racker! Warte, du Spitzbübin!“ Ich rieb mir theatralisch die Stirn. „Zum Teufel mit Eurer Ungeduld!“, schimpfte ich. „Ihr hetzt einen so ab, dass ich mir draußen einen gewaltigen Stoß mit der Stirn gegen einen Fensterladen gegeben habe.“ Für den Rest der Szene waren wir mit unserem Streit beschäftigt und ich spürte, wie meine Nervosität nachließ. Ich liebte meine Rolle und an dem Blitzen in Adams Augen erkannte ich, dass es ihm genauso viel Spaß machte wie mir, mit seinem fiktiven Hausmädchen zu streiten. Wir meisterten die Szene mit Bravour und gingen über zur dritten Szene, wofür Gwen als Angelique die Bühne betrat. Während die beiden ihren Text sagten, schaute ich mich kurz im Publikum um. Ich hatte gelernt, jede Sekunde in der ich nicht spielte aufmerksam zu sein und meine Augen und Ohren sowohl bei den Geschehnissen auf der Bühne als auch im Publikum zu haben. Und dann setzte mein Herz einen Schlag aus.
Wie immer hatte ich zuerst die wenigen Logenplätze beobachtet. Manchmal fanden sich dort kleine Berühmtheiten, was mich jedes Mal mit Stolz erfüllte, aber heute erkannte ich niemanden. Auf dem stickigen, obersten Rang drängelten sich wie immer ein paar junge Frauen, deren Traum es war, selbst auf der Bühne zu stehen, die Stehplätze waren dagegen größtenteils männlich besetzt und die Logenplätze – ich blinzelte. Ich wollte mir die Augen reiben, aber das ging jetzt nicht, also blinzelte ich noch mal, aber Jimmy saß noch immer dort. Oder vielleicht war es auch nur ein Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Aber noch während ich den Gedanken zu Ende dachte, wurde mir klar, dass es sehr wohl Jimmy war, denn zu diesem Zeitpunkt befand sich die Familie Crawley in London. Und tatsächlich – ein paar Plätze weiter rechts saß Sybil. Ich wollte sie genau anschauen, sehen, ob sie sich verändert hatte, nachdem wir uns so lange nicht gesehen hatten, aber dann war es Zeit für meinen Einsatz. „Sputet Euch, sputet Euch, Herr Argan; Herr Fleurant macht uns zu schaffen.“ Meine Vergangenheit sitzt im Publikum.

Jimmy
Ich hatte keine Ahnung von dem Stück und so hatte ich auch keinen Schimmer, wann Lizzys Rolle ihren ersten Auftritt hatte. Oder was überhaupt ihre Rolle war. Denn ich hatte mir kein Programm gekauft, die Busfahrt und der Eintritt waren schon teuer genug und sollte es tatsächlich eine andere Elizabeth Allen heute Abend sein, dann hatte ich ziemlich viel Geld von meinem spärlichen Lohn verloren. Würde Thomas wissen, wo ich gerade bin, hätte er mich für verrückt gehalten. Deswegen und wegen der Tatsache, dass er Lizzy meines Wissens nach nicht wirklich leiden konnte, hatte ich ihm noch nicht von dem Theaterbesuch erzählt. Endlich begann die Vorstellung, aber Lizzy war nirgends zu sehen. Komischerweise wurde ich tatsächlich etwas nervös, als es sich weiter hinzog. Aber dann... Sie stürmte quasi auf die Bühne. Und trotz ihres Kostüms - Es war wirklich Ironie des Schicksals, dass es gerade eine Dienstmädchenuniform war - und der Schminke erkannte ich sie. Ihre Stimme klang laut durch das Theater und sie schien in ihrer Rolle förmlich aufzugehen. Man sah ihr die Hingabe an. Ich wandte meinen Blick nicht ab. Und als sie tatsächlich einmal keinen Text hatte, wanderten ihre Augen unauffällig durch das Publikum. Kam es mir nur so vor oder sah sie mich tatsächlich an? Konnte man von der hell erleuchteten Bühne die Gesichter im Publikum so genau erkennen? Wenn, dann ließ sie sich professionell wie sie war nichts anmerken. Eine Sekunde meinte ich, dass sie mich erkannte, bevor ihr Blick wegschweifte. Ich folgte ihm - und erkannte zu meiner Verblüffung Lady Sybil nur ein paar Plätze entfernt von mir. Anscheinend war ich nicht der einzige, der Lizzy Allens Zeit in Downton nicht vergessen hatte...
Sybil
Breit lächelnd sah ich Lizzy zu. Sie war wirklich talentiert und schien großen Spaß in ihrer Rolle zu haben. Ich freute mich so sehr - dass ich sie gefunden hatte nach all der Zeit, dass es ihr gut ging und dass sie etwas gefunden hatte, für das sie brannte. Natürlich hatte ich mir das schlimmste ausgemalt, als wir einfach nichts mehr von ihr gehört hatten. Aber sie jetzt so strahlend zu sehen, machte mich einfach glücklich. Mein Lächeln wurde noch breiter, als sie mich kurz ansah, bevor es auch schon weiter in der Szene ging. Hoffentlich hatte ich nachher die Gelegenheit, mit ihr zu reden. Auch wenn ich da sicher nicht der einzige sein würde - Jimmy würde wohl kaum all die Strapazen aufnehmen und dann nachher kein Wort mit ihr reden. Nicht nach all dem, was auf Downton zwischen den beiden passiert war... Erleichtert darüber, Lizzy wiederzusehen, genoss ich das restliche Theaterstück, besonders wenn ihre Rolle vorkam.

Lizzy
Bis zur Pause nach 50 Minuten schaffte ich es, mich zu konzentrieren und nicht an Sybil oder Jimmy zu denken, aber während wir in der Pause alles etwas tranken und meine Schminke aufgefrischt wurde, wurde mir klar, dass ich die beiden nicht ignorieren konnte. Da keiner von beiden sich besonders für Theater interessierte, lag die Vermutung nahe, dass sie meinen Namen irgendwo gelesen hatten und meinetwegen hier waren. Es war seltsam, nachdem ich so gut mit meiner Vergangenheit abgeschlossen hatte, plötzlich so ehemals wichtige Personen wieder zu sehen, aber mir war klar, dass ich mit ihnen reden musste. Gerade mit Sybil, weil wir uns nach dem Drama bei meiner Hochzeit nie ausgesprochen hatten und es hatte mich lange verfolgt, dass wir im Streit auseinander gegangen waren. Also ging ich, als ich soweit wiederhergestellt war, zu Frankie, die meine Rolle als Mädchen für alles eingenommen hatte, erklärte ihr, wem sie welche Nachricht überbringen sollte und brachte mich dann in Position, da ich nach der Pause direkt wieder eine Szene hatte. Meine Konzentration war zwar nicht die beste, aber ich brachte das Stück irgendwie hinter mich. Die ganze Zeit hoffte ich nur, dass Frankie nicht den falschen Personen gesagt hatte, sie sollten nach der Aufführung hinter die Bühne kommen. Doch meine Sorge erwies sich als unbegründet. Nach minutenlangem Applaus und den üblichen Umarmungen und Glückwünschen unter uns Schauspielern, als ich gerade auf dem Weg in meine Garderobe war, hörte ich die Stimme von George, dem kleinen, aber sehr breiten Mann, der den Bereich hinter der Bühne bewachte, seit ein geisteskranker Fan vor meiner Zeit am Theater einmal während einer Aufführung hinter die Bühne gekommen und Chaos verbreitet hatte. "...sagen sie alle Ma'am, Freunde von Miss Allen... nein, sie kommen hier nicht durch – he, Freundchen!" Ich folgte seiner Stimme und tatsächlich: Sybil und Jimmy waren gekommen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mir nicht mal überlegt hatte, was ich zu ihnen sagen wollte. "Schon in Ordnung, George, das sind Bekannte von mir", sagte ich, woraufhin George sich kleinlaut zurückzog. Einen Moment standen wir uns nur gegenüber und schauten uns an. Weder Sybil noch Jimmy hatten sich verändert, obwohl ich erleichtert feststellen musste, dass ich bei Jimmys Anblick keine Schnappatmung mehr bekam. "Also... Ihr habt mich gefunden", sagte ich schließlich etwas verlegen und fummelte an meinem Häubchen herum, das ich schließlich abnahm, um nicht allzu komisch auszusehen, sondern etwas mehr als ich selbst. Im Gegensatz zu den vielen Frauen in London, die sich die Haare abschnitten, bis sie kaum mehr auf dem Kopf hatten als ihre eigenen Ehemänner, hatte ich meine langen Locken behalten – für das Theater und die verschiedenen Rollen war es einfach praktischer, schließlich wollte ich keine Männer spielen.

|
![]()
Das Forum hat 7
Themen
und
3310
Beiträge.
|
![]() | Einfach ein eigenes Xobor Forum erstellen |